01 23 Magazin für Architektur, Garten und Lebensart

Mit Weite wohnen

Auf Tuchfühlung mit der Landschaft zauberte der Architekt Charles de Picciotto ein silbergraues Glanzstück in die Natur. Ein Ferienhaus zum Ruhetanken, das durch virtuose Planung nahtlose Blicke in sämtliche Richtungen zulässt.

Schon die erste Ortsbesichtigung des Wassergrundstücks offenbarte die komplexe Lage des besonderen Platzes: Die Lage an der Schlei prädestinierte in der Theorie eine Hauptfassade zur Förde und eine rückwärtige Nebenfassade auf das ansteigende Weideland des sich weit in den Nordwesten erstreckenden Grundstücks. Soweit so gut. Doch als der Architekt den Dachboden der noch stehenden alten Scheune bestieg, zeigte sich, dass im künftigen Obergeschoss auch das Gunnebyer Noor, ein Nebenarm der Schlei, im Nordwesten als Panorama zu sehen war. Im Gegensatz zu einem Grundstück am Meer mit dem frontal liegenden Panorama wurde deutlich, dass der Blick aus dem Haus am Fluss spannender in Richtung Fluss ist als nur darüber hinweg auf die andere ­Uferseite. Solch eine landschaftliche Schönheit in alle Richtungen – der Architekt war hingerissen und fragte sich, in welche nun die Hauptblickachse verlaufen sollte.

„Am besten in jede“, dachte er sich, als ihm die Geschichte vom Räuber ­Hotzenplotz in den Sinn kam. Charles de Picciotto fertigte den Entwurf des Hauses an und initiierte Bewegung in die Dachgauben – ganz wie die Augen auf dem Hut des Zauberers Petrosilius Zwackelmann. Mit den Bauherren waren schon einige andere Bauvorhaben gemeinsam entstanden, die Zusammenarbeit war erprobt und von gegenseitigem Respekt und Vertrauen geprägt – so ließen sie ihrem Architekten freien Lauf. Das Entwurfskonzept sah vor, dass das Gebäude – bis auf Gründung und Sohlplatte – soweit wie möglich aus nachwachsenden Ressourcen dieser herrlichen Kulturlandschaft entstehen sollte. Über die Jahre sollte sich eine natürliche Patina durch den Alterungsprozess entwickeln, die eine Einheit zwischen Natur und Baukultur entstehen lässt. So wählte der Architekt die Konstruktion in Holzbauweise, massive vorgefertigte Holzwände, Holzbalkendecken, Dämmung aus Holzfasern und Zelluloseflocken, sowie eine sägerauhe, unbehandelte Fassadenverschalung aus Douglasie für Wand- und Dachflächen, die sich mit der Zeit in wunderschönes silbergrau zu verwandeln vermag. Auch die Fensterrahmen blieben unbehandelt, so dass auch sie in Würde altern können. Im Innenraum wurde nach dem gleichen Konzept vorgegangen: Alle Oberflächen der Wände und Decken verblieben als unbehandelte Holzflächen in heller Kiefer, sowie sämtliche Einbaumöbel, Küchenschränke, Regale, Treppen und Türen.

Hier an der Schlei hat es das Holzhaus nicht einfach, sich gegen die Witterung der Region zu behaupten. Doch seit der Fertigstellung stemmt es sich tapfer gegen den starken Seewind, der die Regenmassen während der Herbststürme meist unerbittlich horizontal gegen die Fassaden- und Fensterflächen trommeln lässt. Nach der ersten ­Orkanperiode stellte man fest, an welchen Bauteilen die DIN-Vorschriften den aufgekommenen Wind- und Orkanstärken nicht genügen, so dass entsprechende Ertüchtigungen vorgenommen wurden.

Das gemeinsame Ziel der Architekten und Bauherren war es, ein Bauwerk zu schaffen, das über seine Lebenszeit immer stärker mit dem Ort verschmilzt, um schließlich als eine Skulptur aus Schwemmholz – sozusagen aus der Schlei geboren – zeitlos ans Ufer geschwemmt erscheint und als ein Teil dieser wunderschönen rauen Typologie verstanden wird. So steht es da – als faszinierender Rückzugsort zu jeder Jahreszeit, mit bezaubernden Blicken in alle Richtungen, um jedem Fleck die nötige Beachtung zu schenken.


www.depicciotto.de

EINS MIT DER NATUR



ARCHITEKTEN Charles de Picciotto Architekt BDA
LAGE Gemeinde Ulsnis an der Schlei, Schleswig-Holstein
BAUJAHR 2016
WOHNFLÄCHE 150 qm